Pfützenozean

Mir wurde ein Ozeanpulli geschenkt. Dunkelblau, weich und mit tollem Schnitt wirkt er ungeheuer urban, obwohl ein tauchender Wal drauf ist – ein cooler Stadtwal halt. Der muss damit klar kommen, dass ich auf dem Land wohne und deshalb häufig in uncoole Situationen gerate. Zum Beispiel beim Versuch, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Ich sitze in einem hölzernen, undichten Bushäuschen und es regnet. Vielleicht kommt der nächste Bus in drei Stunden. Vielleicht scheint bis dahin die Sonne – oder ich bin erfroren. Die Pfütze vor der Haltestelle erreicht schon jetzt eine kritische Tiefe. Pfützen auf Schlagloch übersäten Landstraßen können ozeanhafte Ausmaße annehmen.

Ich sollte mich über jeden Regentropfen freuen, weil der Grundwasserspiegel wenigstens heute nicht sinkt. Trotzdem ist die Welt irgendwie kaputt. Ich hab zu viel zum Klimawandel gelesen und seitdem geht dieses Gefühl nicht mehr weg. Dass die Welt kaputt ist. Als ich zu Rechtspopulismus recherchiert habe, dachte ich, das wäre schlimm. Aber Klimawandel ist schlimmer. Dagegen hilft ja nicht mal eine stramm linksradikal erzogene Kinderschar, die ich mir immer noch zulegen könnte, wenn ich nur wollte.

Jedenfalls ist es mir nach so viel Recherche einfach nicht mehr möglich, so einfach ins Auto zu steigen und das Fahrrad ist platt. Deshalb also dieses feuchte Bushäuschen. Eine Welt, in der der Bus im Achtstunden-Takt verkehrt, ist irgendwie kaputt.

Die Ozeanpfütze verliert sich in den Ackerfurchen des gegenüber liegenden Feldes. Mein cooler urbaner Pulli ist schon ganz feucht, als sich plötzlich etwas Unbekanntes in mir regt. Erschrocken lege ich mir eine Hand auf die Brust und fühle Flossen flattern. Die Regennässe hat den Pulliwal munter gemacht. Seine kleinen Augen blinzeln und ich spüre dicke Haut an meinen Fingerspitzen. Überrascht lege ich mir auch meine andere Hand auf die Brust. Mit einem lässigen Flossenschlag stößt der Wal sich ab und schwimmt mir vom Pulli direkt in die Hände. Quietschend strecke ich die Arme von mir und der Wal glitscht mir durch die Finger, beschreibt einen majestätischen Regenbogen und taucht in die Ozeanpfütze.

Warte, Moment, hallo?! Unter einer wallosen Brust schreit mein Herz: „Spring!“ Und ich gehorche, strecke die Arme und köppere hinterher. Mit majestätischem Bauchplatscher.

Zukunftsgefühle sind ein bisschen wie Schlaglochozeane. Ohne Sauerstoffreserven trudele ich in die Tiefe, vorbei an Zigarettenstummeln und schwach leuchtenden Glyphosatrückständen. Wo ist der Wal? Keine Schillernden Korallenriffe, keine faszinierenden Fischschwärme.

Stattdessen bekommen ich Angst. Was, wenn nie wieder Sommerregen fällt und das hier der letzte Taschenozean des Jahres ist? Das Wasser wird düster und fühlt sich mindestens 1,5 Grad zu warm an. Ich rudere mit Armen und Beinen und weil Angst dabei nicht hilft, schalte ich taktisch um und empfinde tiefe Verzweiflung. Das Wasser wird blind. In so einer Pfütze kann doch kein Wal überleben, ein milchiger Tod in Pestizidrückständen.

Verzweiflung presst mir die Seele aus dem Leib und die letzten Reserven aus der Lunge. Etwas bekommt meine flatternde Hand zu fassen, etwas warmes lebendiges und ich kralle mich fest. Es trägt mich empor, bis ich die Wasseroberfläche durchstoße und pruste und schnaufe und meine Lungen sich wieder mit Luft füllen, süß und weich und voller Leben.

Auf wilden Wellen treibt ein verwegenes Gefährt. Hoffnungspiraten, die gegen den Weltuntergang meutern? Es ist mein Kanapee. Darauf hockt die Kunst und schimpft vor sich hin. Ich hole tief Luft und tauche schnell wieder ab. Mit frischem Sauerstoff im Blut entwickeln meine Arme bald Flossengefühle und meine Beine einen Rhythmus. Ein paar Mückenlarven treiben vorbei. Kein leuchtender Quallenschwarm, aber immerhin. Doch wo ist der Wal? Und wohin treibt uns die Zukunft? Oder wir sie?

Ich gerate in einen kurzen Wutanfall, der das Wasser lila rot färbt. Wie denn – verdammt nochmal – richtig leben im Falschen? Die reichsten 10% der Weltbevölkerung produzieren 50% aller Emissionen. Das ist scheiße! Nur ist es quasi unmöglich, in unserem Land zu leben und nicht zu den reichsten 10% zu gehören, egal wie sparsam ich heize. Kapitalismus ist halt scheiße. Wo ist meine verdammter Wal? Ist doch meiner! War auf meinem Pulli!

Das Wasser wechselt wieder die Farbe, wird fies gelb und ich gehe unter in meiner Scham. Schäme mich für unseren seltsamen Hunger nach Bequemlichkeit, der die Welt auffrisst. Für den Glauben, ein Recht zu haben auf beheizte Schwimmbäder, billige Kleidung und unbegrenztes Datenvolumen. Reglos sinke ich tiefer und hoffe, dass der Wal mich nicht findet in meiner Schuld.

Das Wasser wird immer brackiger und die Wut über meine Hilflosigkeit verschmilzt mit der Scham, Teil der Zerstörung zu sein. Diese Mischung wird zu einer neuen Farbe, einem allumfassenden Grau, einer tiefen Hoffnungslosigkeit, die mich umhüllt, meine Glieder schwer werden lässt und mich lockt, den Mund zu öffnen und es einzulassen. Dann wäre endlich Frieden und ich frei von Schuld. Ich presse meine Lippen aufeinander, aber meine Flossen rudern nutzlos im grauen Nichts.

Es ist egal, wo der Wal ist, die Welt bleibt doch kaputt und mir geht die Luft aus. Ich sinke immer tiefer und ertrinke. Meine Augen verschleiern und das Grau kitzelt meine Nasenlöcher. Da spüre ich die Verdrängung des Wassers: Der Wal. Ein Schimmern von Silber, von Geborgenheit und Blau, ein kleines Auge, das Hoffnung zwinkert und das Grau verdrängt. Meine Hände ertasten Furchen, Muscheln und uraltes Wissen.

Doch es ist zu spät, meine Lungen sind leer. Der Schatz lag zu tief. Die Hoffnung am Boden der Truhe zu schwer. Ich öffne den Mund und das Grau triumphiert. Während ich aufgebe, durchpflügt plötzlich eine riesige Kraft das Schlagloch, teilt das Wasser und schleudert mich vom Grunde das Ozeans in den Himmel. Ich fliege, ich falle und schlage hart auf. Der Bus pflügt bereits durch die nächste Pfütze, beschleunigt und verschwindet hinter der Waldkante.

Nass bis in die Knochen liege ich in der Ackerfurche und ringe nach Luft. Ich lache und weine und drücken einen flatternden Wal an mein Herz, der langsam zur Ruhe kommt an seinem Pulliplatz. Es ist wahr: Die Welt ist kaputt, aber noch ist sie da. Und ich auch. Der nächste Bus kommt vielleicht in 12 Stunden. Bis dahin bin ich getrocknet. Und dann, dann geht es richtig los!

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