Sommermärchen

Und so erreiche ich das Meer, an der Kurtaxe vorbei gemogelt. Nieselregen schlägt mir ins Gesicht und es ist so viel Horizont! Blaugrün ist das Meer, blau der Himmel und weiß bis grau bis dunkelgrau die Wolken, die sich über mir türmen. Ich beginne wieder eine neue Reise. Ein russischer Dichter hat einmal gesagt: „Ich brauche wenig: Einen Kanten Brot und einen Tropfen Milch. Und diesen Himmel und diese Wolken!“

Ja, denke ich, diesen Himmel und diese Wolken! … Und ignoriere dabei mein Gepäck, das mindestens zwei Kilo zu schwer mir über die Schultern hängt.
Der Wind schiebt die Wolken und er schiebt mich voran. Ich stecke mir eine Grashalm zwischen die Zähne und nehme den Weg durch die Dünen, wogendes, pieksendes Gras. Grashalmkauen sei krebserregend, erklärte mir ein Tourist zwei Campingplätze weiter vorne, aber ich kann keine Warnschilder mit Aufschriften wie: „Grashalmkauen gefährdet Ihr Kind schon in der Schwangerschaft“ oder „Grashalmkauen kann tödlich sein“ an den Büscheln erkennen, also kaue ich weiter – ich will auch cool sein.

Ich zähle die fallenden Tropfen und sie werden weniger, die große Wolke zieht fort ins Land. Urlauber trauen sich wegen des unsteten Wetters zum Glück kaum aus ihren Wohnkäfigen und ich kann das Flimmern der Fernseher durch die Gardinen in ihren Fenstern erkennen, bevor wieder eine neue Dornenhecke den Campingplatz umschließt. Lauter schlafende Dornröschen eigentlich … und ich küsse euch bestimmt nicht wach, sondern bin mit mir beschäftigt und mit dem Horizont. Diese perfekte Linie, wo die Natur es doch sonst nicht so genau nimmt mit der Geometrie; hier hat ihre Hand nicht gezittert, als sie diesen Strich zog und er macht den Raum weit, lässt Luft holen, lässt die Lungenflügel sich weite, als würde ein Vogel seine Schwingen entfalten … aber keine Angst: Mein Gepäck hält mich am Boden. Und ob meine Schuhe sich noch einmal auf ein Fliegeabenteuer einließen?

Sie sind alt geworden, meine Schuhe. Tiefe Furchen durchziehen ihr Leder, zwei alte Greise, aber zäh! Noch tragen sie; und aus Dankbarkeit trage ich sie auch manchmal ein Stück, lasse sie über meinen geschulterten Wanderstock baumeln und mein Schal verwirrt sich in ihren Schnürsenkeln. Sie schaukeln vor und zurück, rufen „Hüh vorwärts“ und „ruhig Brauner“, lachen in den Wind. Immer noch Kinder eigentlich.

Und immer noch das Meer. Nun barfuß lasse ich mir von ihm die Füße lecken und ich hinterlasse Spuren im nassen Sand. Und der Strand gehört nur mir. Meine Hosenbeine habe ich hochgekrempelt, aber die Schöße meines Frackes trinken das Salzwasser begierig und die Krempe meines Hutes tropft von den Schauern, die mich immer wieder überfallen, heftig, aber kurz und ich mache mich einfach ganz dünne, damit ich ganz unter die Krempe passe. Weil mein Körper aber ja irgendwo hin muss, wenn ich mich so dünne mache, werde ich größer.

Die Wellen gehen vor und zurück und umspülen meine Füße. Meine Gedanken gehen vor und zurück und im Kopf formuliere ich Postkarten.
„Liebe Schwester, wir haben uns lange nicht gesehen und Dein Kind ist schon ein Jahr alt…“
„Liebe Marlene, es ist Sommer und beinahe Revolution…“
Der Horizont wird weiter.

„Lieber Philipp, wann ist Dir das letzte Mal auf Deinem Bass eine Saite gerissen und wann werde ich Dich wieder spielen hören?“
Eine Möwe streift meinen Hut.

„Lieber Jongleur, wusstest Du, dass menschliche Nähe das Blut erwärmt und dann erreicht diese Wärme mein Herz und die Eisschicht bricht auf?“
Eine erste Wolke bleibt in meinen Haaren hängen.

„Lieber Therapeut, wir haben uns lange nicht gesehn und ich glaube, ich werde gerade erwachsen.“

Der Wind fährt mir ins Gesicht und als ich aufblicke, treibt gerade eine kleine Wolkenschafgruppe an meiner linken Schulter vorbei. Ich bin so groß, dass nicht nur die Schiffe am Horizont, sondern auch die Boote zu meinen Füßen kleinen Nussschalen gleichen. Verwirrt schaue ich mich um. Und da entdecke ich meine Schuhe. Vorsichtig setze ich sie auf meine Handfläche und sie sind kaum größer als zwei Salzkörner. Verängstigt brummen sie. He, ihr seid wohl zu alt geworden zum Fliegen? Kommt, ich zeige euch trotzdem den Himmel! Und strecke meine Hand in die Höhe!

„Dort, wo ich hinschau, geht ein Wind vorüber. Die Bäume unter mir sind von ihm voll!“
Ein Pulk Möwen kreischt heran, umschwirrt meine Finger, meine Schuhe bellen ganz aufgeregt, und versucht dann, sich auf meiner Nasenspitze niederzulassen. Als ich zu lachen beginne, drehen sie bei.

Ich bin so groß! He Don Quichotte, wo bist du?! Lass uns gegen die Windmühlen kämpfen, heute ginge die Geschichte anders aus! Wir sind jetzt hier – was jetzt geschieht, geschieht uns! Die Flügel drehen, drehen, drehen sich im Kreis, aber sie bewirken nicht mehr als ein leichtes Flattern meiner Hemdsärmel. Die Mühle knechtet, knechtet, knechtet mich nicht. Ich bin frei!

Ich zähle die Wolken, ich pflücke sie, wie Löwenzahnsterne, feingesponnen im luftfarbenen Licht. Meine Schuhe sammeln Tropfen in den Furchen ihres Leders, schütteln sich. Ich beginne mich zu drehen. Mein Schal flattert und die Glocke an meinem Ohr läutet Sturm! Das Blau des Himmels stürzt auf mich ein, dieser Seidenstoff ohne Oberfläche umhüllt mich … und dann die Sonne, diese gleißende Scheibe! Ich strecke meine Hand in die Höhe und ihre Strahlen brechen zwischen meinen Fingern hindurch, goldene Pfade in die Luft und mir ins Gesicht. „Mein Glück ein Regenbogen, der im Sonnengolde blitzt…“

Jetzt bläst mir der Wind ins Gesicht, er will meine Haare und stößt mir den Hut vom Kopf. Vielleicht will ja mal eine ganze Elefantenherde über die Ostsee schippern, diese Arche wäre große genug. Und jetzt wühlt mir der Wind in den Haaren, er braust mir in den Ohren, die Wolken tanzen und der blaue Himmel kommt immer näher. Das Blau des Wassers, das eigentlich grün ist und ich tauche ein. Wellen spritzen auf und mein Kopf langt fast bis nach Dänemark. Wasser umspült meinen Leib, meine Brüste, zwei Inseln im Meer und ich lache.

Das ist das Meer. Ich liege auf meinen Schulterblättern. Ich bin das Meer. Ich bin ein Meer, das wogt und wellt und still ist. Ich tauche in mich ein, tauche nach Gold und nach Gift. Was bin ich denn in meinem Innern, grob oder zart? Warum ist das wichtig? Wer will das wissen? Das Meer um ich, das Meer in mir, gekrönt von Schaum die Wellen und ich, das Rauschen und selbst der Gesang der Muscheln ist zu hören – bis ich endlich den Mut finde, die Luft anzuhalten und ganz hineinzufahren in die See!
Auch hier ist alles blau. Aber die Sonne ist oben geblieben. Und ich sehe die Härchen auf meinem Arm sich aufstellen, denn es ist durchaus kein warmer Tag, und das einzige, das ich höre ist der Puls meines Blutes, das warm zu meinem Herzen fließt und mir ist, als würde ich eine Eisschicht ganz leise brechen fühlen.
UUAH ist das kalt und ich kämpfe mich durch die Brandung zurück zum Strand.

„He, hier kein FKK“, blöken mich zwei Urlauber im Vorbeigehen an, die sich trotz des unsteten Wetters aus ihren Wohnwagen getraut haben. Ich bedecke meine Brust mit Händen und obwohl ich weiß, dass meine Gepäck kein Handtuch enthält, suche ich danach. Ich steige in meine ungewaschenen Klamotten zurück und fische meinen Hut aus dem Wasser. Meine Schuhe stehen etwas abseits im Sand und sind bis zum Rand gefüllt mit Wasser, süßes Wasser, Wolkenwasser. Trage ich euch eben noch ein bisschen.
Ich schultere mein Gepäck und stecke mir einen frischen Grashalm zwischen die Zähne. Und während ich mich wieder auf meinen Weg durch die Dünen mache, zähle ich die Muscheln in meiner Tasche, Sand in meinen Ohren, Salz mir auf den Lippen, Silbertropfen in meinem Haar und ich lächle: Ich bin jetzt hier – was jetzt geschieht, geschieht mir!